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Sonntag, 17. Mai 2020 | Domschatzkammer Trier

Internationaler Museumstag digital

Sie wird häufig in der Museumslandschaft Triers vergessen und doch zählt sie zu den kostbarsten und historisch bedeutendsten Sammlungen Deutschlands mit einigen Objekten von Weltrang: Die Trierer Domschatzkammer.

Am Internationalen Museumstag, am Sonntag, 17. Mai  2020, der unter dem Motto stand „diversity and inclusion, Vielfalt und Einheit“ und ausschließlich digital erlebbar war, verglich Kunsthistoriker Dr. Jürgen von Ahn mittelalterliche mit historistischer Goldschmiedekunst und dies erstmals in digitaler Form.

In Kooperation mit der Dom-Information, dem Museum am Dom und der Katholischen Erwachsenbildung Trier präsentierte er das Annen-Reliquiar, das Petrus-Träger-Reliquiar und abschließend den selten sichtbaren Blasius-Schrein, der in der geschlossenen West-Krypta des Domes aufbewahrt wird.

  • Drei Wege die Leere zu füllen

    Eine Besonderheit des Trierer Domschatzes liegt in der Tatsache, zugleich einer der neuesten und ältesten Domschätze Deutschlands zu sein. Doch, wie erklärt sich dieser Wiederspruch? Einerseits bildet eine Gruppe aus bedeutenden Reliquien
    und einzigartigen früh- und hochmittelalterlichen Reliquiaren immer noch den Kern der Sammlung. Diese konnten durch die Wirren der Zeit über Jahrhunderte bewahrt werden. Hier seien neben dem bekannten Heiligen Rock nur der Kreuznagel mit seiner karolingischen Hülle und der ottonische Andreastragaltar mit der Sohle des heiligen Apostels genannt. Zum anderen sah sich der Kirchenschatz immer wieder Plünderungen und Enteignungen ausgesetzt. Die umfangreichsten Verluste erlitt er in der Folge der Säkularisation im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Viele der Objekte wurden aufgrund ihres Materialwertes eingeschmolzen und gingen somit für immer verloren. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Rahmen eines erneut erstarkenden Katholizismus sah man es als Aufgabe an, die ungefassten Reliquien, welche man vor der Zerstörung retten konnte, wieder in würdige Behälter zu verbringen. Hierbei war auch der sogenannte Kulturkampf von Bedeutung. Trier war, neben vielen anderen Gebieten, an das Königreich Preußen gefallen. Dies führte zu weitreichenden Verwerfungen zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem protestantischen Staat. Letzterer versuchte auf verschiedene Weisen eine erstarkende katholische Bewegung zu unterdrücken, was wiederum den Wiederstand gläubiger Katholiken hervorrief. Eine Welle von Sozial- und Kunststiftungen als Reaktion war die Folge. In Trier und der Region war die wohlhabende Unternehmerfamilie Puricelli von besonderer Bedeutung. Ihr sind viele Stiftungen in der Domkirche und dem Trierer Bistum zu verdanken.

    In Bezug auf Reliquiarstiftungen zeigt sich ein sehr differenziertes Bild. Die Strategien, den Mangel an hochwertigen Reliquiaren zu beheben, waren sehr unterschiedlich. Ankäufe von vormals enteigneten sakralen Kunstwerken aus dem Kunsthandel waren nur eine Möglichkeit. Dies betraf einerseits erhaltene Objekte des eigenen geplünderten Schatzes, die es zurück zu erwerben galt und anderseits Stücke unbekannter Herkunft, die man nun in den eigenen noch erhaltenen Schatz integrierte. Dies geschah entweder im erworbenen Zustand oder man gestaltete sie in Teilen oder gänzlich um. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, gänzlich neue Objekte zu schaffen. Dabei orientierten sich die Auftraggeber und Künstler an bekannten Kunstwerken und man kreierte – bei Verwendung mittelalterlicher Formensprache – gänzlich neue Objekte. Unter anderen Aspekten resultierte diese Bewunderung und Sehnsucht für die Kunst des Mittelalters aus dem Wissen um den vorangegangenen Verlust unzähliger Objekte dieser Epoche. Die neue Zeit war zugleich aber auch geprägt durch den technischen Fortschritt, welcher auch im Bereich der Goldschmiedearbeiten mehr und mehr Raum einnahm. Vorgefertigte Bauteile ermöglichten nun eine Massenproduktion ganzer Objektgruppen. Reliquiare, Kelche, Kreuze und weitere Kirchenausstattung konnten so in umfangreichen Katalogen angeboten werden, wurden auf Bestellung produziert. Teilweise wurden diese auch auf Wunsch des Auftraggebers mit personalisierten Elementen verziert. Ein schönes Beispiel im Trierer Domschatz hierzu bilden viele Objekte aus dem Pontifikalornat des Bischofs Michael Felix Korum.
    Diese Form der Massenanfertigung brachte nicht nur der Goldschmiedekunst des Historismus den Ruf ein, beliebig oder gar minderwertig zu sein. Im direkten Vergleich mit ihren mittelalterlichen Vorbildern wurden sie in der Kunstgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts meist marginalisiert. Dabei zeigt sich bei intensiverer Auseinandersetzung mit bestimmten Kunstwerken jener Zeit, wie kreativ die Entwürfe, Bildprogramme und Konzepte sein konnten. Dies trifft sowohl auf wiedergenutzte, gänzlich neukonzipierte Stücke und vermeintliche Kopien zu. Im Folgenden soll dieser Sachverhalt exemplarisch an drei Trierer Beispielen versucht werden aufzuzeigen. Ich lade Sie daher nun herzlich ein – der akuten Situation geschuldet – mir virtuell bei den Erläuterungen zum Blasiusschrein, dem Armreliquiar mit Reliquien der heiligen Anna und bei einem Vergleich des historistischen Petrus-Trägerreliquiars und seinem mittelalterlichen Vorbild, dem Annen-Trägerreliquiar, zu folgen. Sobald wieder möglich, sollten Sie die Gelegenheit nutzen, diese und weitere imposanten Objekte der sakralen Kunst vor Ort im Trierer Dom und dem Museum am Dom zu besuchen und zu erkunden. Es gibt viel zu entdecken!

    Dr. Jürgen von Ahn M.A., Trier

  • Neugeschaffen? Der Blasiusschrein in der Westkrypta des Domes

    Ein wunderschönes Beispiel für die kreative Schaffenskraft des Historismus ist der sogenannte Blasius-Schrein der Trierer Goldschmiedewerkstatt Brems-Varain. Das Sammelreliquiar mit den Häuptern der drei Heiligen Blasius, Cornelius und Gertulius wurde im zweiten Weltkrieg stark beschädigt. Restauriert und in einer Vitrine untergebracht, befindet er sich heute in der Westkrypta des Trierer Domes. Analog zu vielen seiner mittelalterlichen Vorbilder steht er dort hinter dem Altar in erhöhter Position.
    So zentral präsentiert und von allen Seiten einzusehen, offenbart er dem Besucher bei genauer Betrachtung sein ausgefeiltes theologisches bzw. hagiologisches Programm. Gestiftet im Jahre 1892 von der wohlhabenden Unternehmerfamilie Puricelli, gemeinsam mit dem damaligen Trierer Bischof Michael Felix Korum, sollte das neue Reliquiar den drei Schädelreliquien einen neuen würdigen Rahmen bieten. Ursprünglich waren diese in drei (spät-)mittelalterlichen Büstenreliquiaren untergebracht, welche nach der Flüchtung des Domschatzes im Jahr 1794 eingeschmolzenen worden waren. Im Rahmen eines nach der Säkularisation wieder erstarkenden Katholizismus war es vielen wohlhabenden Gläubigen ein Anliegen, den heiligen Gebeinen wieder eine würdige Hülle zu verschaffen, um sie wieder einer angemessenen Verehrung zuzuführen.

    Für die Herstellung beauftragte die Familie Puricelli eine der größten und bedeutendsten Goldschmiedewerkstätten westlich des Rheines, die Trierer Firma Brems-Varain (1845–1912). In der Manier des Historismus entschied man sich in diesem Fall, ein gänzlich neues Objekt zu konzipieren, welches in großen Teilen Anlehnung an spätromanische Reliquienschreine des Rhein-Maas-Gebietes nahm. Es vereint auf ganz eigene Weise die Formensprache des Mittelalters mit Neuerungen bezüglich Technik und Gestaltung des 19. Jahrhunderts.
     
    Der Schrein entstand in den Jahren 1892 bis 1894. Aus Messing gefertigt und gänzlich vergoldet ist er zusätzlich mit einer großen Anzahl von Emaillearbeiten und Edelsteinen verziert. Mit den Maßen von 68,5 cm x 50 cm x 89 cm bietet er genug Raum, um alle drei Schädelreliquien einzeln zu präsentieren.

    Der Reliquienschrein ruht auf vier Löwenfiguren. Diese tragen eine Basisplatte, welche von einer umlaufenden Zierleiste aus alternierenden Emaille- und Filigranfeldern gerahmt wird. Besonders auffallend erscheint, dass fast alle  Verzierungen achsensymmetrisch angebracht wurden, was sich sowohl auf die Front-, wie auch auf die Längsseiten bezieht. Zwei vertikal verlaufende Zierleisten unterteilen die Längsseite in drei gleichgroße Segmente, in denen jeweils ein in Stoff verhüllter Heiligenschädel Platz findet. Diese sind hier – im Gegensatz zu mittelalterlichen Schreinen - durch von Bögen überfangenen Sichtfenster zu sehen. Die Bögen tragen eine Inschrift, die den einzelnen Heiligen (von vorne: Blasius, Corelius, Gertulius) nicht nur benennen, sondern zugleich eine personalisierte Fürbitte (…ora pro nobis) an ihn richten. Die rahmenden Zierleisten sind mit zierlichen vegetabilen und tiermotivischen Emaillemedaillons sowie Edelsteinen reich verziert. Auf dem Satteldach wird die Dreiteilung analog fortgesetzt: Jede Seite besteht aus drei vertieften Kassettenfeldern. Diese zeigen jeweils eine, in einen Vierpass eingelassene, tiefblaue Emailletafel. Auf der rechten Seite ist über der jeweiligen Reliquie das Brustbild des dazugehörigen Heiligen samt Attributen und Inschrift angebracht. Die andere Seite zeigt drei Engel in den Medaillons, die mit ihren Spruchbändern auf das Martyrium des jeweiligen darunter befindlichen Heiligen verweisen. Durch diese Art der Gestaltung werden nicht nur für den Betrachter die Reliquien identifizierbar, sondern sie betont zusätzlich die Individualität der einzelnen heiligen Personen und ihre ihnen ganz eigene Geschichte.
     
    Die eine Stirnseite zeigt die ineinander verschlungenen Buchstaben des  Christusmonogramms: X(chi) P(rho). Die andere wiederum A(lpha) und Ω(mega), welche Analog zu Christus und somit auch Gott, als Symbol für den Anfang und das Ende, den Ersten und den Letzten, stehen. Die ebenfalls dort angebrachten Inschriften Sancti pro christo mortui sunt et vivent in aeternum (Die Heiligen sind für Christus gestorben und leben in Ewigkeit) und Justi in peroetuum vivent et apud dominum est merces eorum (Die Gerechten werden in Ewigkeit leben, und bei dem Herrn ist ihr Lohn) thematisieren das Blutopfer der Märtyrer als Nachfolge des heilsgeschichtlichen Erlösungswerks Christi und zugleich die Bedeutung ihres Martyriums für ihren persönlichen Weg des Heils. Als Lohn für die Standhaftigkeit im Glauben in Angesicht von Leid und drohendem Tod, wurden sie in die himmlische Gemeinschaft mit Christus aufgenommen. Diese Gemeinschaft und die Nähe zu Christus und somit Gott wird im Reliquiar durch den jeweiligen Bogen der Stirnseiten versinnbildlicht. Während die Dreiteilung der Längsseiten, wie zuvor erwähnt, die Individualität der einzelnen Heiligen betont, fassen die Frontseiten – welche den Blick auf alle drei Reliquien freigeben, ihre gemeinsamen Verdienste und Eigenschaften als Märtyrer und Heilige zusammen.

    Dieses Kompositionsschema lässt ein durchdachtes theologisches Konzept erahnen, welches meist auf den Wünschen der Stifter beruhte und deren theologisch bzw. hagiologischer Vorbildung zum Ausdruck bringt. Dass sich die Stifterfamilie und der Bischof in diesem Fall für die Ausstattung der Reliquien dreier Märtyrer entschieden hatten und im Programm explizit auf die Bedeutung des Martyriums - also des Leidens und Sterbens für den rechten Glauben – verweisen, scheint mit Blick auf die politische Situation der Zeit, nicht ungewöhnlich. Die Säkularisierung und der Kulturkampf hatten auf römisch-katholischer Seite den Kämpfergeist geweckt.   

    Der Trierer Blasiusschrein zeigt eindrücklich, dass die Goldschmiedearbeiten des 19. Jahrhunderts in vielen Aspekten ihren mittelalterlichen Vorbildern nicht nachstehen müssen. Im Gegenteil: Sie sind Ausdruck einer Epoche, die in ihrer Wahrnehmung und Bewunderung für die Kunst einer vergangenen Zeit, deren Formensprache zitiert, es dennoch versteht, diese in komplexen neu durchdachten Kunstwerken für eigene Zwecke dienlich zu machen. Die Komposition und das Programm des Blasiusschreins ist somit ein exemplarisches Beispiel für die mitunter außergewöhnliche Schaffenskraft der Reliquiarkunst zu Zeiten des Historismus.

    Dr. Jürgen von Ahn M.A. , Trier

  • Wiederverwerten? Das Armreliquiar mit Reliquien der hl. Anna

    Das hier gezeigte Reliquiar aus vergoldetem Silberblech stammt im Kern aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wurde jedoch im 19. Jahrhundert in nicht geringem Maße überarbeitet. Dies zeigt sich an einer Vielzahl von neueren Lötstellen und Elementen, welche nicht zur Originalausstattung eines Reliquienarms des Mittelalters passen. Er befindet sich heute in der Schatzkammer des Domes. Als Armreliquiar gehört es zu den sogenannten „Redenden“ oder „Sprechenden Reliquiaren“. Die Bezeichnung rührt daher, dass die Form der Hülle - in diesem Falle ein menschlicher Arm samt Hand - durch ihre äußerliche Gestaltung auf den sich im Inneren befindenden heiligen Gegenstand direkt bezieht. In diesem Fall handelt es sich um Reliquien der heiligen Anna, der Großmutter Christi, welche vom Arm und/oder der Hand dieser stammen sollen.

    In Folge einer gesteigerten Marienfrömmigkeit zu Zeiten des Spätmittelalters erlebte im deutschsprachigen Raum auch die Verehrung der Großmutter Christi eine gewisse Blüte. Vielerorts tauchen zu diesem Zeitpunkt Annenreliquien auf und erfreuten sich bei den Gläubigen einer großen Beliebtheit. So beinhaltete auch der Trierer Heiltumschatz Reliquien dieser besonderen Heiligen, die man, nicht zuletzt durch ihre verwandtschaftliche Nähe zu Christus selbst, bei vielerlei Problemen und Wünschen um Fürbitte bei ihrem Enkel und somit Gott bat. Ihre Reliquien kamen oft über Schenkungen in die Reliquienschätze. Manchmal bestand so ein Geschenk aus einer Einheit von Reliquie und Reliquiar. Meist wurden jedoch die Reliquien allein verschenkt und am neuen Ort fand sich ein wohlhabender Stifter, der die Reliquie mit einem passenden und würdigen Reliquiar ausstattete. So vermutlich auch geschehen beim hier gezeigten Objekt. Darüber berichtet unter anderem eine Inschrift, welche sich zwischen zwei vergoldeten, mit Ornamenten verzierten, „Armreifen“ auf der Rückseite des Armes selbst befindet. Der lateinische Text lautet: DIVAE ANNE / HOC BRACHIALE / ORNAMENTUM VEN[erabilis] / ET GEN[erosus] DOM[inus] CHRISTOPH DE RINECK ECCLES[iae] / TREVIR[ensis] DECAN[us] / SUO POSTULATO / ARGENTO FIERI / MANDAVIT PERFECTUM / 1531 (Diesen Armschmuck der heiligen Anna ließ der ehrwürdige und wohlgeborene Herr Christoph Burggraf von Rheineck, Dekan der Trierer Kirche, aus eigenem reinem Silber machen. Fertiggestellt 1531). Zusätzlich berichtet uns das erhaltene Testament dieses Stifters über die Entstehung und Verwendung des gestifteten Armreliquiars. So ließ Christoph von Rheineck für die Anfertigung des Objektes dem Goldschmied Edelmetall, Perlen, Edelsteine und Splitter von Pfennigen, die mit dem heiligen Nagel durchbohrt worden waren, zukommen. Darüber hinaus verfügte er, dass der Arm zum Fest der heiligen Anna auf dem Hochaltar des Domes ausgestellt werden sollte.     

    Hier tut sich jedoch ein Problem auf: Beim heute im Domschatz verwahrten Reliquienarm samt Inschrift handelt es sich nicht mehr um jenes Objekt der Schatzkunst, das einst von Christoph von Rheineck gestiftet worden war. Dies zeigt sich schon bei einem Blick auf ein Reliquienverzeichnis aus dem Jahr 1655, welches die damals vorhandenen Reliquiare zeigt. Der dort zu sehende Annen-Arm ist ein gänzlich anderer. Im Gegensatz zum heutigen Stück, hatte dieser einen schlichten Sockel und bestand nicht aus einer architektonischen Struktur. Auch die Haltung der Finger unterscheidet sich komplett von der des originalen Arms.

    Warum aber trägt das heutige Stück die aus den Quellen bekannte Stifterinschrift? Handelt es sich um eine bewusste vorsätzliche Fälschung? Die ursprüngliche Inschrift muss also an einem anderen mittelalterlichen Stück angebracht worden sein. Diese Tatsache erklärt sich jedoch nicht aus einem bösen Willen heraus, ganz im Gegenteil. Dass originale Stück befand sich offensichtlich unter den während der Säkularisation eingeschmolzenen Stücken und war somit unwiederbringlich für den Trierer Schatz verloren. Nicht alle den Kirchen entzogenen Kunstwerke wurden jedoch zwangsläufig vernichtet. Ein nicht zu unterschätzender Teil gelangte auch in den Kunsthandel der Zeit. Nach Ende der französischen Herrschaft machten sich viele kirchliche Institutionen daran, diese Objekte aus dem Handel zurück zu erwerben. Dies geschah zum einen, um die sakralen Objekte dem profanen Nutzen zu entziehen, zum anderen, um die geplünderten Kirchenschätze wieder auf zu füllen und den nicht mehr gefassten Reliquien wieder einen würdigen Rahmen zu verleihen.
    Im Fall der Annenreliquien konnte die Trierer Domkirche offensichtlich ein mittelalterliches Armreliquiar unbekannter Herkunft und Nutzung erwerben. Die Tatsache, dass man die erwähnte Inschrift – welche dokumentiert war - auf ein fremdes Objekt anbrachte, unterstreicht die Bedeutung, welche der originale Arm für seinen einstigen Stifter hatte. Denn mit dem Stiften ehrwürdiger Reliquiare oder anderer sakraler Kunst ging der Wunsch einher, Gutes zu tun. Zum einen machte man sich um den Heiligen (und somit letztlich Gott) verdient, dessen Gebeine man mit dem kostspieligen Objekt ehrte und hoffte auf dessen Fürbitte. Zum anderen wollte man die Gläubigen, welche die Reliquien verehrten, stetig an die eigene Stiftung erinnern und gleichzeitig ermahnen, für das eigene Seelenheil zu beten und zu bitten. Dies geschah meist, wenn das Objekt öffentlich präsentiert wurde. Mit dieser Art der Memoria versuchten in den vorangegangenen Jahrhunderten und versuchen bis heute viele Gläubige eine Art Jenseitsvorsorge zu treffen. Diese war und ist engstens mit dem jeweiligen Objekt verbunden. In dem Wissen um die einstige Stiftertätigkeit des Christoph von Rheineck war es nur folgerichtig, bei der Ausstattung der Reliquien wieder an diese Tat zu erinnern.

    Dass man nicht schlicht ein neues Objekt samt überlieferter Inschrift anfertigen ließ, erklärt sich in diesem Fall mir einer Aura des Alten und Ehrwürdigen, die nur ein ebenfalls altes Reliquiar generieren konnte. Sie war zugleich Beweis für die Originalität und Authentizität der beinhalteten Reliquie. Man kann somit in diesem Zusammenhang durchaus das aktuell beliebte Wort des „Upcyclings“, also des „Wiederverwerten“, verwenden. Dafür, dass man aber nicht zwangsläufig beabsichtige, mit diesem Objekt dem Betrachter vorzuspielen, es handele sich um das Original, lassen sich möglicherweise ein paar Hinweise finden: Die Öffnung in der Hand und das verschließbare Fensterchen am Arm, welche fast schon orientalische Formen zitieren, scheinen eine spätere Zutat zu sein, welche im Rahmen der Umnutzung hinzugefügt worden zu sein scheint. Ebenso ist die Handhaltung nicht dem Original entsprechend. Dieses zeigte einst einen Segensgestus, was aus der Tatsache resultiert, dass Kleriker den Arm zum Segnen der Gläubigen oder gar Auflegen benutzte. Dies entsprang der Vorstellung, dass der im Reliquiar, durch seine Hand-/Armreliquien vertretene Heilige, gleichsam selbst den Gläubigen segnete.
    Die am wiederverwerteten Arm gezeigte Handhaltung ist für Armreliquiare äußerst ungewöhnlich. Die Haltung des Daumens, der den Zeigefinger berührt ist, entspricht eher einem mittelalterlichen Redegestus. Dieser fand zum Beispiel in der Buchmalerei Verwendung, wenn man anzeigen wollte, dass die dargestellte Person zu einer anderen spricht. Die untypische Handhaltung ist anhand der Lötstellen und dem überdimensionierten Daumen als nachträgliche Umgestaltung zu erkennen. Sie könnte im Rahmen der Umarbeitung erfolgt sein, um den wiedergenutzten Arm sozusagen über sich „sprechen zu lassen“ und zusätzlich auf die ebenfalls wieder hinzugefügte Inschrift und ihren Anlass, die einstige Stiftung, hinzuweisen. Weitere Forschung wäre von Nöten.  
         
    Der Reliquienarm der heiligen Anna aus dem Trierer Domschatz ist ein spannendes Beispiel für die Kreativität im Umgang mit sakraler Schatzkunst zu Zeiten des Historismus. Und darüber hinaus ist er ein Symbol für die bewahrende Kraft einer Jahrhunderte alten kirchlichen Institution, die Wege gefunden hat, mit den Brüchen der eigenen Geschichte umzugehen.

    Dr. Jürgen von Ahn M.A. , Trier

  • Kopieren? Das Annen-Trägerreliquiar und das Petrus-Trägerreliquiar im Vergleich

    Beim sogenannten Annen-Trägerreliquiar handelt es sich um ein Stück, welches in großen Teilen aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhundert, entstanden vermutlich in Trier, stammt. Fraglich ist, ob es ursprünglich für den Trierer Domschatz und für die beinhaltenden Reliquien (Heiltum der heiligen Anna) gedacht war, da es nicht in den überlieferten Quellen zum Domschatz nachzuweisen ist. Es besteht aus vergoldetem Kupfer und misst 26 cm in der Länge, 21,5 cm in der Breite und 21 cm in der Höhe.
    Das in dieser Form eher ungewöhnliche Reliquiar ruht auf einer Bodenplatte, welche von vier Löwen getragenen wird. Diese ist mit acht gefassten violetten Steinen verziert. Auf der schlichten und glatten Platte stehen vier Figuren in Form nicht näher bestimmbarer Kleriker, die den eigentlichen Reliquienbehälter in Form eines Miniaturschreins auf einer weiteren Platte tragen. Sie sind paarweise einander zugewandt angeordnet. Der Schrein, den sie präsentieren, ist im Vergleich zu ihrer Körpergröße recht gewaltig. Realen erhaltenen oder dokumentierten Schreinen dieser Zeit entsprechend, zeigt er architektonische Formen und zitiert somit ein Kirchengebäude. Der Gliederung dieser Großschreine entspricht im Besonderen die Anordnung der Figuren, welche sich unter Baldachinen aus Dreipassbögen eingestellt sind und die von sogenannten Wimpergen überfangen werden. Der obere Teil es Miniaturschreins erhebt sich, ähnlich eines Hauptschiffes eines Kirchengebäudes, über den Rest und ist mit weiteren violetten Steinen verziert. Anstelle des mittleren Daches bzw. Deckels befindet sich ein großer hohl-gebohrter Bergkristall, der die Knochenreliquien der Heiligen enthält und diese, sofern sie nicht in kostbare Stoffe eingewickelt sind, zum Teil dem Betrachter darbietet. Diese Art der Präsentation – die ganz im Gegensatz zu den großen Schreinen derselben Zeit steht – macht das Reliquiar zu einer Art Schaugefäß, einem sogenannten Ostensorium.
    Die Art der Miniaturdarstellung eines von Figuren getragenen Reliquiars in Schreinform hat ihr Vorbild in mittelalterlichen Reliquienprozessionen. Bei diesen wurden die Heiligen in ihren Schreinen durch das Kirchengebäude oder gar die ganze Stadt getragen und so den an den Straßenrändern warteten und betenden Gläubigen präsentiert. Dass nun die tragenden Personen einander zugewandt sind und nicht in eine Richtung schreiten, spricht bei der Darstellung für den Moment der Präsentation der Reliquie und nicht für eine Momentaufnahme aus der Prozession selbst. Der Grund hierfür scheint in der Verwendung als Schaugefäß zu liegen. Dass Objekt wurde zu bestimmten Zeiten vermutlich in der für es bestimmten Kirche auf einem der Altäre ausgesetzt. Die Klerikerfiguren übernahmen dann sozusagen die Präsentation der heiligen Gebeine in Ersatz echter Träger.
    Ob das Objekt in seinem ursprünglichen Konzept so erdacht war, lässt sich nicht mehr gänzlich klären. In der Art, wie es sich heute präsentiert, spricht vieles dafür, dass es zu einer nicht genau bestimmbaren Zeit repariert und möglicherweise neu zusammengefügt wurde.  

    Vielleicht geschah dies in der Trierer Goldschmiedewerkstatt Brems-Verain. Auf jeden Fall war das Stück dessen Besitzer bekannt. Ein Hinweis hierauf gibt ein Reliquiar, dass Josef Brems im Jahr 1895 anlässlich seines Firmenjubiläums dem Trierer Dom gestiftet hatte. Es ist ebenfalls aus Messing gegossen, sowie in Teilen versilbert und vergoldet. Bei einer Größe von 44 cm (Höhe) x 37 cm (Länge) ist es zwar um einiges größer als das zuvor gezeigte Annen-Trägerreliquiar, doch weist es in seiner Grundstruktur große Ähnlichkeiten zu diesem auf. Das Ensemble ruht ebenfalls auf einer Platte, welche von vier Löwen getragen wird. Diese ist sparsam mit einem Emailleband geschmückt. Hierauf stehen jedoch im Gegensatz zum mittelalterlichen Vorbild vier Engelsgestalten. Auch diese präsentieren – ebenfalls einander zugewandt – dem Betrachter einen Schrein in Miniaturform, welchen sie mit Hilfe von zwei Stangen auf ihren Schultern tragen.  
    Dieser Schrein ist, im Gegensatz zu seinem mittelalterlichen Äquivalent, an allen Seiten durch Sichtfenster geöffnet. Diese erlauben den vollen Blick auf den heiligen Inhalt: Bei diesem handelt es sich, laut der Überlieferung, um zwei Teile der Glieder jener Kette, mit welcher der heilige Petrus in Rom vor seinem Martyrium angekettet war und die bis zu einem gewissen Zeitpunkt im Egbertschrein mit anderen Reliquien untergebracht waren. Das historistische Schaugefäß trägt mehrere auf Latein verfasste Inschriften: Diejenige auf der Trägerplatte berichtet über den Stifter und den Anlass zur Stiftung: Vivo Petro hoc donum dedicat Josef Brems aurifaber, die jubilaei officinae suae 1845 15. Juli 1895. (Dem [heiligen] Petrus widmet dieses Geschenk der Goldschmied Josef Brems, am Tag des Jubiläums seiner Werkstatt 1845 15. Juli 1895).

    Reliquiare und vasa sacra (Gefäße für die Feier der Eucharistie, wie z.B. Messkelche) waren zu Zeiten des Kulturkampfes – also der Auseinandersetzung zwischen der protestantischen Regierung Preußens und der Römisch-Katholischen Kirche – beliebte Stiftungsobjekte. Sie füllten die durch die Säkularisierung stark geplünderten Domschätze wieder auf. Kleriker, katholische Adelige und Bürger mit Vermögen sahen es als ihre Pflicht an, diesen wieder eine würdige Unterbringung zu ermöglichen und bestellten bei Goldschmieden aus dem ganzen Reich nach ihren
    Wünschen und Vorstellungen gestaltete Kunstwerke. Das hier gezeigte Objekt stellt durchaus eine Besonderheit dar, da es vom Goldschmied selbst anlässlich seines 50. Firmenjubiläums gestiftet wurde. Als wohlhabender Besitzer einer renommierten Goldschmiedewerkstatt, welche für ganz Europa, Übersee und selbst für den Vatikan sakrale Kunstwerke anfertigte, gehörte es zum Selbstverständnis, sich nicht als Handwerker, sondern als Künstler und sogar Mäzen zu sehen. Josef Brems, welcher selbst auch Kunstsammler war, stiftete als wohlhabender Bürger dem Trierer Dom so zur eigenen Memoria.

    Die Tatsache, dass er sich bei der Gestaltung an einem bekannten Reliquiar orientierte, kann nicht als bloßes Kopieren interpretiert werden. Beim genaueren Hinsehen werden die Unterschiede nur zu deutlich. Im Vergleich zum Reliquiar
    des 14. Jahrhunderts wirkt das neue Objekt viel akkurater und dadurch auch statischer. Letzteres, was man der historistischen Goldschmiedekunst in der kunstgeschichtlichen Forschung des letzten Jahrhunderts gerne unterstellte, war schlichtweg durch neuere Techniken bedingt. Zum einen waren die Bauteile, die den Kern der Objekte bildeten, bedingt durch eine industrielle Vorfertigung, welche ganz auf Höhe und dem Anspruch der Zeit war – von nahezu perfekter Fertigung, wodurch sie natürlich weniger Lebendigkeit ausstrahlen, als ihre über Jahrhunderte genutzten mittelalterlichen Vorbilder. Hinzu kam, dass im Mittelalter ein Goldschmied an (fast) allen Phasen und Prozessen der Entstehung eines solchen Objektes beteiligt war (Guss, Schmiedearbeiten, Treibarbeiten, Emailleherstellung, Gravur, etc.). Im Historismus hingegen spezialisierten sich einzelne Mitarbeiter der Werkstatt auf bestimmte Bereiche der Herstellung, was durchaus zu einer weiteren  Perfektionierung der einzelnen verwendeten Elemente führte.
    Hieraus jedoch einen Unterschied in der Wertigkeit der Objekte heraus lesen zu wollen und sie als bloße Kopie zu betrachten, wäre verfehlt. Hinter den Objekten des Historismus stecken ähnliche künstlerische und theologische Konzepte, wie bei denjenigen des Mittealters. Selbst wenn man sich an den Formen voriger Zeiten orientierte, entwickelten die Künstler dieser Epoche die sakrale Kunst doch maßgeblich weiter, indem sie neue moderne Techniken verwendeten und eigene, den Vorstellungen der Zeit angepasste Konzepte entwickelten und zum Ausdruck brachten.

    Dr. Jürgen von Ahn M.A. , Trier